Zeitung 2015
Der Kirchturmstreit von Lauenburg
Warum der Turm 1945 stumpf wurde - und 1992 wieder spitz:
Lauenburg (du). Kirche - eigentlich ein Ort des friedlichen Miteinanders. Doch in Lauenburg sorgte sie jahrzehntelang für heiße Diskussionen. Es war die Spitze von Maria Magdalenen, an der sich die Gemüter entzündeten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Turm demontiert worden und hatte eine stumpfe Haube erhalten. Doch etliche Lauenburger wollten ihre Kirchturmspitze wiederhaben - und ließen nicht locker.
Darunter auch Hans-Jürgen Boisen, 1986 Vorsitzender der „Freunde und Förderer der Evangelisch-lutherischen Kirche in Lauenburg“. Der 75-Jährige ist begeisterter Hobby-Archivar und hat zum Kirchturmstreit viel recherchiert. „Nach Kriegsende hatten die Briten alle Ämter in der Stadtverwaltung mit Menschen ohne Nazivergangenheit besetzt", erklärt Boisen den Hintergrund. So sei der selbstständige Architekt Rudolf Sack Stadtbaurat geworden, der aus Stettin geflüchtet war. „Sein häufigster Satz soll ,Den Lauenburger wollen wir's mal zeigen' gewesen sein“, so Boisen. Dieses Zitat fand er in einem Bericht des Lauenburger Architekten Ulrich Flörke, der ab 1945 im Stadtbauamt angestellt war.
Neben 800 Häusern war auch das Dach des Kirchenschiffs der Maria-Magdalenen-Kirche vom Granatenhagel stark beschädigt. Nur der erst 1902 neu errichtete Spitzturm war verschont geblieben. Doch der gefiel Stadtbaurat Sack nicht: Er sei zu hoch und nicht dem Stadtbild angemessen. Es scheint so, dass der Stadtbaurat seine architektonischen Vorstellungen mit einer List durchsetzte. Er entschied, den Turm zu kappen und mit dem gewonnen Material das Kirchendach zu reparieren. Denn Materialknappheit - das war ein Argument, das allen einleuchten musste.
Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und dem zerbombten Hamburg verdoppelten Lauenburgs Einwohnerzahl. Baumaterial gab es nicht, selbst Särge durften nicht getischlert werden. „Mein Vater wurde 1945, wie viele andere auch, in eine Decke gehüllt beerdigt“, erinnert sich Hans-Jürgen Boisen. Wenn sich Bürger beschwerten, könne man ja einfach erzählen, der Holzwurm habe den Turm beschädigt, soll Sack laut Flörkes Bericht gesagt haben.
Doch im Turmholz war nicht der Wurm, wohl aber in der Berechnung des Stadtbaurates. Die schmalen Turmhelmflächen reichten bei Weitem nicht aus, um das Kirchdach zu flicken. Außerdem waren die glasierten Biberschwänze (flache Dachpfannen) nicht zur Wiederverwendung geeignet. Die Erkenntnis, dass das wohl von Sack einkalkuliert worden war, kam für den Kirchenvorstand zu spät. „Die Bauarbeiten am Kirchturm sind so weit vorgeschritten, dass eine Sistierung (Aussetzung) nicht mehr möglich ist“, schrieb der Kirchenvorstand am 10. Oktober 1945 an das Landeskirchenamt Kiel. Für die Reparatur des Kirchendachs musste zusätzliches Baumaterial beschafft werden - teuer und aufwendig.
Das Wirken des Stadtbaurats Sack in Lauenburg war nur von kurzer Dauer. Nach seiner Entlassung wurden die vier Uhrengiebel provisorisch überdacht. Die 15 Meter langen Dachsparren lagern seit der Demontage immer noch im Kirchturm. 1988 bestätigte Ulrich Flörke: „Sie sind nach wie vor ohne Wurmbefall“. Pastor Heinz-Erik Iversen und Denkmalpfleger hielten einen neuen Spitzturm nicht für notwendig. Doch Hans-Jürgen Boisen kämpfte weiter dafür. „Für mich war die Kirchturmspitze immer ein Wahrzeichen Lauenburgs“, zitierte ihn die Lauenburgische Landeszeitung damals.
Über 600 Unterschriften sammelte der Förderverein für die Wiederherstellung der Spitze. Und im April 1992 war das Ziel erreicht: Der Kirchenvorstand stimmte dem Bau eines neuen Turmhelms zu. Schon im September 1992 war er fertiggestellt. Allerdings nicht wie 1902 aus glasierten Ziegeln, sondern aus Kupfer.
Lauenburger Landeszeitung, von Ute Dürkop, Ostern 2015
oben: Turm vom Hohlen Weg gesehen,
unten: Chorhaupt, Sakristei und Turmspitze, vor den Kriegen
(Fotos: Gustav Knackendöffel, Sammlung Hans-Jürgen Boisen im Stadtarchiv)
oben: Turm mit dem stumpfen Notdach (Foto: Stadtarchiv Lauenburg, Bestand Schönau)